Barcelona
Vom Fliegen

Da saß er. Die Nacht war hereingebrochen, kalt und blau, nur von unten strahlte das Kopfsteinpflaster die Restwärme des Tages ab. Unser Haus gleich neben dem alten Mercat de la Llibertat war rot gestrichen, doch die Farbe blätterte ab, an der Fassade klebte das Foto eines entlaufenen Hundes, daneben die wütende Edding-Kritzelei eines katalanischen Nationalisten „Puta Espanya” – Scheißspanien. Dann und wann verirrte sich eine Kakerlake aus dem benachbarten Gemüselädchen ins Treppenhaus.
Die Geschichten dazu hätte uns sicherlich die alte, gebeugte Spanierin aus dem 1. Stock erzählen können, wäre sie nur einmal hinter dem Eisenspion ihrer schweren Holztür hervorgekommen, wo man im Vorbeigehen mal in die dunkle Leere gefauchte Schimpfwörter, mal unerklärliche Eisenbahngeräusche vernahm. Das Haus gegenüber war gepflegt, sauber, beige, die Glasfassade auf Hochglanz poliert. Und da saß er. Nachtein nachtaus hinter poliertem Glas saß dort ein Nachtwächter mit grauem Bart in der Eingangshalle, die mit ihrem gelblichen Kunstlicht wirkte wie ein zoologischer Schaukasten.
Einzige Ausstattung des Nachtwächters war ein alter Schultisch, dazu ein kleiner Holzstuhl, der gerade so stand, dass der Nachtwächter die nächtliche Straßenkulisse im Blick hatte. Dort sah ich ihn, wenn ich in spät nach Hause kam oder im Morgengrauen zum Markt aufbrach. Sah ihn, wie er versuchte, es sich irgendwie doch gemütlich einzurichten an seinem Kindertisch, auf seinem Stuhl, der so unbequem war, dass der Nachtwächter mit einer Schnur ein Kissen an der Rückenlehne festgebunden hatte.
An der Wand direkt neben Tisch und Stuhl stand ein Einbauschrank, dessen Tür der Nachtwächter manchmal aufklappte, so als wollte er sich mit seinem Schulmobiliar auf der Suche nach etwas Heimeligkeit dahinter verbergen, um mit müdem, fahlem Gesicht zusammengesunken auf seinem Stühlchen zu sitzen, an sein festgezurrtes Kissen geschmiegt, den Nachtsekunden lauschend, die nur langsam tickten.
Ich habe ihn nie mit jemandem sprechen sehen. Nur einmal beobachtete ich, wie er versuchte, mit einem anderen Lebewesen Kontakt aufzunehmen: Ein Nachtfalter hatte sich von außen auf der Glasscheibe niedergelassen. Der Nachtwächter hatte sich erhoben, stand aufrecht, sogar mit einer gewissen Körperspannung direkt vor der Fensterfront. Nach einer Weile fing er an, mit dem Knöchel seines Zeigefingers dort, wo der Nachtfalter auf der anderen Seite saß, zaghaft an die Scheibe zu klopfen. Klopfte und klopfte. Stierte und stierte mit schweren Nachtwächterlidern. Doch der Nachtfalter bewegte sich nicht – er interessierte sich einfach nicht für das Klopfen.
Nach einer Weile sackte der Nachtwächter wieder in sich zusammen und kehrte mit hängenden Armen auf sein Nachtwächterstühlchen zurück. Aber der Nachtfalter hatte doch Flügel, warum also flog er nicht?

Irgendwo winselte ein verlorener Hund, eine Eisenbahn seufzte. Vom Morgengrauen keine Spur.