Paris, 19ème

Adieu – Paris

Zwei Jungen, die in Montmartre am Souvenirstand stehen und emsig an den Kurbeln der Miniaturspieluhren drehen, im Touristengewusel die kleinen Ohren an die Klangfedern halten und sich schließlich für die „French Cancan“-Melodie entscheiden.

Von hier aus sieht man den Eiffelturm nicht, stadtauswärts. Die Beklemmung der Betonklötze, das Knistern der Gegensprechanlage, das Summen des Türöffners, dritter Stock rechts: Durch den dünnen Türspalt fällt gelbes Licht in das dunkle Treppenhaus. Wir treten ein und sind geblendet von blank geputzten Spiegeln und Kristallleuchtern. Grand-Mamie, die wie die Sonnenkönigin in ihrer mit rosafarbener Wandtapisserie ausgekleideten Sozialwohnung sitzt. Versunken und blass in dem guten Kunstledersessel. Der zweite ist leer, da saß Grand-Papie vor Kurzem und zeigte uns empört seine CT-Bilder mit den dunklen Flecken.
Das Schlafzimmer, aus dem jemand das zweite Bett herausgetragen hat, und Grand-Mamie, die uns fest an sich drückt und noch immer von „nous“ spricht.  Die Kinder pflücken ihr Löwenzahn- und Gänseblümchensträuße und malen Bilder mit Glühbirnen und Stehlampen.

Ein plätschernder Brunnen, die Sonne funkelt im Wasser, hinter den oktobergelben Baumwipfeln leuchten die weißen Türmchen von Sacré Coeur.

Quand on n’a que l’amour“, Jaques Brels Vibrato-Stimme, die durch die 70er-Jahre Vorstadt-Kirche tönt, die von außen wie eine Halfpipe aussieht. Das Foto auf dem Sarg, das Grand-Mamie und Grand-Papie schon mit weißem Haar vor dem Eiffelturm im Doisneau-Kuss verschlungen zeigt. Der Pfarrer, unter dessen weißem, mit roten Buchstaben und Symbolen besticktem Habit Plastiksandalen und eine verwaschene Jeans hervorgucken, trägt Floskeln und Lieder vor, die keiner der Trauergäste kennt. Der Platz rechtsaußen bleibt leer.

Mit einer Flasche Rotwein am Seine-Ufer sitzen und Couloummier-Käse mit Nussbrot essen, während die Kinder Murmeln und Brennnesseln ins Wasser werfen.

Grand-Mamie, die sich an der Spitze des schwarzen Trauerzugs den Weg durch das Schachbrettmuster der Friedhofswege bahnt, in ihren langen, braunen Wintermantel gehüllt, die weißen Haare ganz zerlegen. Die sich mit einem letzten Kuss auf das goldene Jesuskreuz auf dem Sarg verabschiedet, die bei der Aufbahrung geschluchzt hatte – „Il est si beau“. Hinter ihr ein Rechteck in der Erde. Der Beerdigungsunternehmer im steifen Synthekikanzug, der wie eine traurige Jukebox Allgemeinplätze herunterleiert. Ein Sandhäufchen, das mit jedem Schaufelschwung der Trauergästeschlange kleiner wird.

Rinnsteinwasser läuft die abschüssige Straße hinab, darauf schippern Faltbötchen aus Reklamezetteln.

Die Renaults, Peugeots und Citroëns der Trauergemeinde werden auf dem Parkplatz eines Hotelwürfels abgestellt. Grand-Mamie, die im Konferenzraum in U-Bestuhlung die mit Edding auf Flipchart geschriebene Speisekarte studiert, und dann doch nur den Rotwein hinunterstürzt und sich den Teller am Nachtischbuffet mit Mousse au Chocolat, Macarons und kleinen Törtchen vollhäuft. Um sie herum weicht das betretene Murmeln fröhlichem Stimmengewirr. Grand-Mamie, die leise weint, an die Gardine gedrängt, den Blick auf den Kreisverkehr, die trotzdem weitermachen will, noch so 3, 4 Jahre.

Wir laufen Hand in Hand in unseren schwarzen Trauerkleidern durch die Straßen im XVIème Arrondissement, vorbei an der kleinen Wohnung, in der wir vor Jahren einmal beschlossen hatten, es zu versuchen.

Die kleine Plastiktüte mit bretonischen Salzbutter-Keksen, die Grand-Mamie für uns – wie immer – gepackt und an die Türklinke gehängt hat, damit wir sie nicht vergessen. Die Tür klappt zu, um uns ist es dunkel. Als wir auf die Straße treten und uns umblicken, bleibt das Fenster zum Parkplatz ein leeres Quadrat.

Die Vorortbahn ist warm und stickig. Als wir aus dem Tunnel fahren, sind wir geblendet von der Oktobersonne, die durch die staubigen Fenster fällt und alles golden macht. Die Sonne, die einfach so weiterscheint.